Zerrissen zwischen zwei Identitäten
Selene Mariani hat mit Ellis ihren Debütroman vorgelegt. Beinahe unerträglich traurig, aber großartig, findet Martin Spieß.
Gleich auf der ersten Seite von Ellis ist klar, worum es geht und gehen wird: „Ich weiß nicht, dass mein Leben morgen geteilt wird und ich die erste Hälfte wegwerfen muss.“
Ich-Erzählerin Ellis ist Deutsch-Italienerin, aber erst auf der vorletzten Seite des Buchs stellt sie sich auch so vor. Bis dahin bedeuten diese beiden Kulturen – deutsche Mutter, italienischer Vater – Struggle und Zerrissenheit.
Sie wird auf dem Schulweg von Mitschülern verprügelt, muss anschließend ihren Ranzen suchen gehen. „In einem der umliegenden Gärten muss er sein, wahrscheinlich wieder der mit elektrischen Tor, wo man klingeln muss, um hineinzukommen.“
In der Schule wird sie gemobbt und gemieden, ihre Lehrer*innen nehmen das entweder nicht ernst („Lass doch“) oder lachen sogar mit der Klasse über sie.
Suche nach Zugehörigkeit
Ihre Zerrissenheit zwischen zwei Ländern, zwei Kulturen und zwei Identitäten ist aber nicht alles. Ellis ist in ihre Freundin Grace verliebt, die sich irgendwann an den Gemeinheiten gegen sie beteiligt.
Mit Mitte 20 treffen sie sich wieder, und trotz allem, was Ellis widerfahren ist, sind ihre Zuneigung und Sehnsucht, die Suche nach Zugehörigkeit zu jemandem oder etwas größer. Auch jetzt nimmt Ellis Grace’ fehlende Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in Kauf, und es tut bei der Lektüre fast auf jeder Seite weh, zu erleben, wie Ellis leidet, aber nicht die Kraft hat, das zu kommunizieren oder gar zu ahnden. „Comedy is tragedy plus time“, heißt es, aber hier könnte es nicht falscher sein.
Ellis und Grace fahren sogar zusammen nach Italien, zu Ellis’ Großeltern, wo Grace (natürlich) einen Mann kennenlernt, mit dem es zwar nichts wird, Ellis sie aber trotzdem tröstet. Währenddessen zeigt die fast schon überromantische Beziehung ihrer Großeltern, wie Leben und Liebe auch sein können. Ellis ist zwar nicht glücklich, ja, nicht einmal zufrieden in Italien, fühlt sich dort jedoch zu Hause, auch wenn ihr immer wieder vor Augen geführt wird, dass sie auch hier nicht dazugehört, wenn sie etwa in Cafés für eine Deutsche gehalten wird. Immer wieder also taucht die Frage auf: Was hätte sein können, wenn ich nicht weggegangen wäre?
Gefühl für Zwischentöne
Ellis aber musste weg, und sie ist so verloren zwischen den Identitäten, dass sie nach allem greift, was ihr Halt geben könnte. Und das schließt eben auch Grace mit ein, die wenig bis kein Gespür hat für Ellis’ Gefühle (speziell) oder Nuancen (allgemein).
Selene Mariani allerdings erzählt diese beinahe unerträglich traurige Geschichte über Identität und Migration mit viel Gefühl für Zwischentöne. Ihr Sound ist behutsam, die Geschichte aber entwickelt eine ungeheure Wucht, ist trotz des zurückgenommenen Stils erschütternd und kraftvoll.
Selene Mariani hat mit Ellis ein großartiges Debüt vorgelegt, um das sie nur zu beneiden ist.